Schwarz-Weiß-Nahaufnahme eines älteren Mannes mit Brille, der nachdenklich in die Ferne blickt.

Führen und Entwickeln einer evangelischen Schule – das war Thema der sehr erfolgreichen Fortbildungsreihe, die Thomas Oertel in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Schulstiftung in der EKD fünf Jahre lang geleitet hat. Vier Module mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die Seminare dazu jeweils zwei Tage lang – das fand so im Jahr 2024 zum letzten Mal statt. Die Wichtigkeit des Themas bleibt bestehen, aber Thomas Oertel zieht sich aus der Arbeit als Schulberater zurück, geht in den Ruhestand. Mehr als drei Jahrzehnte hat er sich mit Leidenschaft der Qualifizierung von Lehrkräften und Schulleitungen gewidmet.

Die Anfänge der Zusammenarbeit

Eine zufällige Begegnung führte zur Zusammenarbeit mit Thomas Oertel. Annerose Fromke, die damalige pädagogische Geschäftsführerin, traf ihn auf einer Tagung der Evangelischen Schulstiftung. Oertel vertrat dort kurzfristig den Referenten, der die Kriterien des Deutschen Schulpreises vorstellen sollte. Im Laufe der Veranstaltung kamen sie ins Gespräch. Es ging um die Schulentwicklung und beide waren sich schnell einig über den zentralen Ansatzpunkt dafür: die Schulleitung. Annerose Fromke suchte in diesem Sinne eine Fortbildung für das Führungspersonal evangelischer Schulen und fragte Thomas Oertel, ob er sich vorstellen könnte, die Aufgabe zu übernehmen. Konnte er und schrieb kurz darauf ein erstes Konzept auf der Basis einer modularen Fortbildungsreihe für Schulleiter, die er bereits seit den 1990er Jahren in Mecklenburg-Vorpommern angeboten und laufend fortentwickelt hatte. Das brachte den Stein ins Rollen.

Thomas Oertel im Gespräch

Ein Gespräch mit Thomas Oertel, der sich nach drei Jahrzehnten als Schulberater für Schulleitungen und Lehrkräfte in den Ruhestand zurückzieht. Foto: Martin Weinhold

Sein Ort, um Kraft zu tanken, ist sein großer Garten: Thomas Oertel lebt im malerischen Mecklenburg-Vorpommern.

Im April 2025 bietet sich die Gelegenheit, mit Thomas Oertel über Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Zusammenarbeit zu reden, seine Einschätzung zu hören, was den Zustand von Bildung, Schule und Inklusion im Land angeht. Dafür reise ich von Berlin nach Mecklenburg. Thomas Oertel lebt westlich von Schwerin, da, wo die Landstraßen einspurig werden. Das Grün der Felder schwingt auf und ab, eine Kastanienallee führt zu einem in die Hügel getupften Ort. Das Haus, in dem er und seine Frau wohnen, umgibt ein großer Garten. Obstbäume stehen auf einer Wiese, dahinter geht der Blick auf ein freies Feld. Für das Gespräch setzen wir uns an den langen Holztisch in der Wohnküche, der Frühling blickt durch die Erdgeschoßfenster ins Zimmer.

Gibt es eine wesentliche Erkenntnis, die er mitgenommen hat aus den Jahren der Zusammenarbeit mit der ESS EKD?

Thomas Oertel überlegt lange, bevor er antwortet: „Das Führen einer Schule ist wirklich ein wichtiges und zentrales Thema. Und es hat schwerwiegende Folgen, sich davor zu drücken. Das gilt generell und nicht nur für Leitungen evangelischer Schulen.“ An denen sei es den Schulleitern anfänglich aber besonders schwergefallen, in ihre Führungsrolle zu finden, weil sie sich als Gleiche unter Gleichen sahen. „Deshalb habe ich von Beginn an bei der Seminarreihe den Schwerpunkt darauf gelegt, die Teilnehmer in ihrer Führungsrolle zu bestärken. Ihr führt das Kollegium – was tut ihr, um eurer Rolle gerecht zu werden?“ Gelingt diese Rollenfindung, wäre viel erreicht, was Oertel auch beim Deutschen Schulpreis auffiel: „Alle Schulen, die da erfolgreich waren, hatten eine starke Führungskraft und eine starke Schulleitung. Die haben die Rollen klar erfüllt, geführt ohne zu diktieren, Konflikte ausgehalten und immer das Kollegium mitgenommen. Sie waren offen für Anregungen und es gab immer die Antenne dafür: Wie entwickeln wir die Schule weiter?“

Eine Diskussion, die in jedem Seminar aufkam, drehte sich um die Schwierigkeit, die zwei Aufgaben von Schulleitern zu bewältigen – Unterrichten und Führen.

Oertels Standpunkt dazu ist eindeutig: „Euer Hauptfokus muss das Führen sein, nicht der Unterricht, den ihr erteilt. Das wäre eine Maßnahme für eine positive Veränderung der Schullandschaft, wenn man sagt: Schulleiterinnen und Schulleiter müssen Unterrichtserfahrung haben, aber sie unterrichten nicht mehr selbst, sondern gehen nur noch in die Klassen, um Rückmeldung zu geben.“ Ob das eine Empfehlung von ihm für die Zukunft wäre? Das „Ja“ mit mehreren Ausrufezeichen kommt sofort. „Schulleiter ist ein Beruf! Das muss man ernst nehmen. Klar kann ein Bischof auch noch predigen, aber die seelsorgerische Arbeit wie ein Pastor macht er nicht mehr. Er ist für das Ganze zuständig und muss die Pastoren alle führen.“

Nach seinen Erfahrungen, was ist besonders wichtig für das Führen und Entwickeln einer evangelischen Schule?

Ein Gespräch mit Thomas Oertel, der sich nach drei Jahrzehnten als Schulberater für Schulleitungen und Lehrkräfte in den Ruhestand zurückzieht. Foto: Martin Weinhold

Drei Jahrzehnte Visionär und Vorreiter für gute Schulentwicklung in Deutschland.

„Sich dazu bekennen: Ich führe. Und: Ich habe eine Idee wo es hingehen soll. Dazu gehört, dass ich als Schulleiter, Schulleiterin weiß, was an meiner Schule passiert. Wie ist der Unterricht? Wie passiert das Lernen? Das Führen und alles was wir an Schulentwicklung machen, jede Veränderung, die wir vornehmen, muss darauf ausgerichtet sein, die Möglichkeiten zu verbessern wie Schülerinnen und Schüler lernen. Es geht in der Schule um nichts anderes, als dass Schülerinnen und Schüler lernen. Finde ich jedenfalls.“

Wie ist seine Bilanz bezogen auf die evangelischen Schulen?

Vorsichtig beschreibt er seine Wahrnehmung, weist darauf hin, dass man es genauer untersuchen, vielleicht auch einmal statistisch erfassen müsste. „Aber mein Gesamteindruck ist, dass die Schulen in evangelischer, allgemein in kirchlicher Trägerschaft ein erfolgreicheres Modell sind, als das staatliche im Durchschnitt. Sie sind auch überproportional bei den Preisträgern des Deutschen Schulpreises vertreten. Das deutet für mich darauf hin, daß es einen qualitativen Unterschied gibt.“ Maßgeblich würde das wohl auch daran liegen, daß in den evangelischen Schulen, die er kennengelernt hat, die Kolleginnen und Kollegen engagierter sind, die Haltung wäre eine andere. Im Vergleich zu staatlichen Schulen wird weniger geklagt, weniger darauf geblickt, ob andere etwas für ein Problem können.

Und was sagt er allgemein zum Stand von Bildung und Inklusion im Land?

Ein Gespräch mit Thomas Oertel, der sich nach drei Jahrzehnten als Schulberater für Schulleitungen und Lehrkräfte in den Ruhestand zurückzieht. Foto: Martin Weinhold

Engagement durch und durch: Thomas Oertel trifft sich auch Beendigung seiner Seminarreihen noch mit den Teilnehmenden, um an guter Schulführung weiter zu arbeiten.

„Ich würde behaupten, der Inklusionsansatz ist in Deutschland gescheitert.“ Der Wille wäre da, es umzusetzen, aber in der Realität hängt es an mehreren Punkten, die nach seiner Beobachtung nicht funktionierten. Als Beispiele nennt er den oft fehlenden Kooperationsgedanken der Lehrkräfte, wenn es um den Austausch über Kinder mit emotional-sozialem Entwicklungsbedarf geht oder das Manko bei der sinnvollen Einbeziehung der Sonderpädagog*innen in den Unterricht. Bezogen auf die Bildung insgesamt ist Thomas Oertels Einschätzung ähnlich ernüchternd: „Es hat sich nichts verbessert.“ Eine wesentliche Ursache, die er dafür sieht: „Wir geben die Bildung Politikern in die Hand, die ihre Parteiideologie in das Ressort mitbringen – und Pädagogik verträgt Ideologie nicht! Ich frage mich, ob Bildungspolitik nicht ein Widerspruch in sich ist. Was wäre zum Beispiel, wenn statt Ministerinnen und Ministern ein Gremium von Bildungsforschern, Hirnforschern, Psychologen, Schulpraktikern – also Sachverstand statt Parteiideologie – die Gestaltung und Entwicklung von Schulen bestimmen würde? Wie wäre es, wenn Schulen wirklich autonom wären? Gäbe es eine größere Vielfalt bei den Schulen, die der Vielfalt der Kinder und Jugendlichen in unserer Gesellschaft besser gerecht würde?“

Zeit für Überraschungen?

Zum Abschluss des Gesprächs kommen wir noch einmal auf dessen eigentlichen Anlass, die Fortbildung für Leitungen evangelischer Schulen im Rahmen der Evangelischen Schulstiftung in der EKD. Wenn Thomas Oertel während dieser Zeit etwas überrascht hat, dann die fantastische Arbeit mit der letzten Gruppe und deren Rückmeldung. Das Finale der Seminarreihe in Bad Bederkesa war ein grandioses. „Das ganz individuelle und unglaublich positive Feedback nach Abschluss des Seminars, das hat mich sehr bewegt. Deswegen hatte ich auch Lust, das noch einmal zu machen. Ich brenn‘ dafür.“ Die Gruppe wird sich nämlich auf eigene Initiative mit ihm wieder zum Austausch treffen.

Interview, Text und Bilder: Martin Weinhold

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